(Datum geändert! Leider müssen wir diesen Workshop verschieben – geplant war eigentlich ihn Ende September 2021 zu geben, wir suchen jetzt noch nach einem neuen passende Datum für den Herbst. Sobald wir eine Entscheidung getroffen haben, wird es hier auf der Seite zu sehen :))
In dieser Folge reflektieren wir (Svenia und Hanna) das Thema für unseren nächsten Workshop, wo es um persönliche Begrenzungen und Muster bei Entscheidungsprozessen geht. Wir sprechen darüber, wie wir jetzt und in der Vergangenheit mit Entscheidungen umgegangen sind, was wir darüber gelernt haben, in wie fern Entscheidungen treffen mit Grenzen setzen und überschreiten zu tun hat und was wir gerne durch den Workshop vermitteln wollen. Über die kommenden Wochen, bis zum Workshoptermin, werden wir wieder noch dazu einen Schreibsprint hier unten veranstalten, wo wir abwechselnd das Thema „Entscheidungen treffen“ schreibend reflektieren, und uns Impulsworte oder Impulssätze für den kommenden Sprint weitergeben. Jedes neuen Impulswort oder jeder neuen Impulssatz wird hier unter dem aktuellsten Textstück stehen, und wird auch über unseren Facebookseite gepostet. Wenn du Lust hast in Dialog mit uns über diesem Thema zu gehen, mach gerne einen eigenen Free-writing zu einem von den Impulswörter und schick es uns zu oder poste im Facebookevent.
SCHREIBSPRINT – Entscheidungen treffen
Entscheidungen treffen. Darüber muss ich heute schreiben.
Ich habe die Entscheidung getroffen zu meiner Mutter jetzt zu fahren. Zu meiner Familie in Schweden. Seit einem Jahr war ich nicht mehr hier. Ich habe mit ihnen über Videocall gesprochen. Ganz oft sogar. Aber sie ganz in Person zu erfahren, ihre Präsenz im Raum, mich neben meiner Mutter auf der Sofa zu setzen, mich ihr mit dem ganzen Körper zuwenden und zuhören. Es fühlt sich so stark an als wir von der Fähre absteigen, eine Nervosität tief im Bauch. So vertraute Menschen und so vertraute Orte. Orte meiner Kindheit, wo ich jede kleine Ecke des Hauses und Garten kenne, alles in Detail mit Kinderfüssen und Kinderhänder untersucht. Und gleichzeitig jetzt so lange her seit dem letzten Mal. Ein Jahr. Ein langer Zeit. Ein Jahr. Eine Ewigkeit. Für mein Kind, die Hälfte seines Lebens.
Ein Wiedersehen, dass sich erstmal einfach so normal anfühlt. Als ob ich erst gestern hier war.
Ich entscheide mich hierher zu kommen jetzt. Wir entscheiden uns alle die Risiko auf uns zu nehmen.
So viele kleine und große Entscheidungen in diesem Jahr. Entscheidungen, die sichtbar sind und unterschiedlich moralisch bewertet werden können. Jemanden zu treffen oder nicht treffen. Die Distanz bewahren oder doch immer mal wieder zu überbrücken. Die Maske anbehalten oder öftermal ausziehen. Die Eltern treffen oder doch nicht. Umarmen oder auf Distanz bleiben. Über den Arm streicheln, kurz berühren…? Zusammen Weihnachten feiern oder abwarten. Die Regeln und Verordnungen als Rechtsschnur, aber sie haben sich ständig geändert, und auch das Wissen, das hinter den Regeln stand war ständig in Wandlung. Wenn jemanden sagt, dass die Entsteckungsgefahr verschwindend klein draußen ist, verändert das die Basis für meine Entscheidungen, wie ich mich draußen verhalte? Auch wenn die Regeln weiterhin zu Distanz und Maske in allen Situationen aufrufen, und zu reduzierte soziale Kontakte. Aber kann ich mich dann auf einem Bank mit einem Freundin mich im Park hinsetzen? Oder mich entspannt mit den anderen Eltern auf dem Spielplatz unterhalten? Kann ich den Nachbarskind unbeschwert den Schaufel überreichen?
Und wie ist es mit der Arbeit? Wenn es mir wieder erlaubt ist andere Menschen in Einzelsitzungen zu berühren, heißt das, dass die Risiko jetzt gering genug ist, oder nur dass die Rechtslage sich verändert hat, oder dass den gesellschaftliche Druck zu stark geworden ist? Soll ich dann anfangen wieder zu arbeiten oder besser noch ein bisschen abwarten – es nicht riskieren. Ich muss es weiterhin einfach für mich einschätzen und eine Entscheidung treffen.
„Ich muss es weiterhin einfach für mich einschätzen.“
Eine Entscheidung treffen bedeutet Verantwortung zu übernehmen. Ich entscheide, ich trage die Konsequenzen. Das können kleine oder größere Entscheidungen sein. Ich denke, dass macht es oft so schwer eine Entscheidung zu treffen, weil es ein Moment ist, in dem uns die Verantwortung, die wir immer tragen, besonders bewusst wird. Sonst können wir sie ausblenden. So, wie wir ausblenden können, dass jeder einzelne Schritt, den wir machen eine Entscheidung ist. Das kann sich manchmal einsam anfühlen.
„…dass jeder einzelne Schritt, den wir machen eine Entscheidung ist.“
Jeder Schritt eine Entscheidung. Ich entscheide meinen Fuß vor dem anderen Fuß zu setzen oder doch nicht oder doch einen Schritt zurück oder doch den Fuß entschieden neben den anderen zu stellen und stehen bleiben. „Ein, zwei, drei in Saußeschritt, gehen alle Kinder mit…“ singt mein Kind. Ein Lied dass er aus der Kita gelernt hat. Alle Kinder gehen mit. Alle Kinder soll fröhlich über der Wiese hüpfen, tanzen, lachen… Midsommer in Schwedischen Landidylle. Genau so wie es sein soll. Aber auch mit ständigen Erschöpfungen, und kleineren und größeren Wutausbrüchen – das Essen dauert, die kleine Magen knurren zusammen mit den Launen, den Abend wird zu spät… aber dazwischen nehmen wir viele Schritte um den Maistang herum und singen und fallen um und lachen wie verrückte über die alten Kinderlieder. Jeder Schritt eine Entscheidung. Jeder Schritt mit Folgen, die ich nicht vorhersagen kann. Das macht mir manchmal ein schweren, dunklen Loch im Bauch daran zu denken, macht mich schwindelig. Besonders wenn ich mal aufwache mitten in der Nacht und im Dunkel schaue. Was habe ich in meinem Leben bisher entschieden? Was kann ich jetzt nicht mehr zurücknehmen? Welche Abzweigungen habe ich verpasst? Manchmal habe ich das Gefühl, dass alles weiterhin offen bleibt. Das ich alles noch machen kann, aber manchmal merke ich so deutlich wie schnell meine Lebenszeit läuft, jeden Tag in Schwung vorbei, und kommt nicht mehr zurück. Ich werde älter und sehe deutlich wie meine Eltern, meine Brüder, meine Freunde… älter werden. So viel gutes auch was damit kommt. Wie unsere Beziehungen zu einander reifen und tiefer werden. Wie wunderbar andere Menschen so tief zu kennen, so viele Erfahrungen mit einander zu teilen, auch die schwierigen. Aber auch da, welche Entscheidungen treffe ich mit ihnen? Plötzlich sind sie nicht mehr da. Plötzlich können wir uns nicht mehr treffen. Plötzlich bleibt doch nur die Erinnerungen. Dass es plötzlich vorbei ist. Und jeden Schritt deshalb oder trotzdem mit Leichtigkeit aber ernst genommen werden muss.
“ wie schnell meine Lebenszeit läuft „
Das ist auch etwas, das mir in diesen Tagen immer wieder ganz deutlich vor Augen steht. Meine Lebenszeit läuft schnell. Nach dem Abi habe ich nicht verstanden was die Leute meinten, wenn sie sagten: „Dir stehen alle Möglichkeiten offen“. Jetzt denke ich auch, wenn ich noch einmal neu anfangen könnte. Warum habe ich nicht verstanden, wie wertvoll es ist jung zu sein und sein Leben noch vor sich zu haben. Heute kann ich nicht mehr alles machen. Es gibt Dinge, die unwiederbringlich vorbei sind. Wie die Entscheidung ein Kind zu bekommen. Türen schließen sich. Ich habe weniger Kraft, weniger Zeit, weniger Energie. Mein Vater hätte jetzt noch 12 Jahre vor sich gehabt. Das ist nicht viel Zeit. In dieser Zeit kann man vielleicht kein Geld für eine Weltreise mehr zusammensparen. Ein Haus kaufen? Lohnt sich nicht mehr. Außer vielleicht man kann es direkt bezahlen. Das Klima retten? Dafür haben wir laut der aktuellen Berechnungen noch 10 Jahre Zeit. Und das, wo Entscheidungen oft so lange brauchen, bis sie dann auch zuverlässig umgesetzt werden. Alte Gewohnheiten ändern dauert Zeit.
„Es gibt Dinge, die unwiederbringlich vorbei sind.“
Heute fahre ich wieder zurück nach Berlin. Die Zeit mit der Familie in Schweden ist vorbei.
Es ist komisch wie die Zeit läuft. Manchmal das Gefühl, dass ich so viel Zeit habe und dann plötzlich ist es vorbei. „Es gibt Dinge die unwiederbringlich vorbei sind.“ Ich denke, dass es vielleicht eher so ist, dass nicht nur einige Sachen unwiederbringlich vorbei sind, sondern alles immer, die ganze Zeit unwiederbringlich vorbei ist. Nichts ist so wie vor einem Moment. Dass die Sachen und Menschen um uns herum gleich bleiben ist eine Illusion, etwas das wir so durch unseren Vorstellungskraft machen. Wir halten Sachen fest, suchen mit unserem Blick nach die Details, die uns schon vertraut sind, und sagen „Wie immer!“. Es fühlt sich an als, ob Sachen sich wiederholen. Als ob die Menschen um uns herum gleich bleiben. Aber kein von uns bleibt gleich. Manchmal versuchen wir gleich zu bleiben. Oder versuchen verzweifelt uns zu verändern und haben das Gefühl, wir schaffen es nicht. Aber es stimmt nicht. Nichts bleibt gleich und alles verändert sich ständig. Eine stetige Bewegung in uns und um uns herum. Wie die Erde sich um ihre Achse und um die Sonne sich dreht. Stetige Bewegung. Wir entscheiden uns für etwas und gegen etwas anderes. Wir nähern uns etwas an. Und dann bewegen wir uns wieder weg davon. Und die Situationen verändern sich mit und unabhängig von uns und unsere Entscheidungen. Verändern sich stetig. Tag für Tag ganz anders. Tag für Tag ganz neu. Hautzellen die sterben und von uns wegfallen. Wir werden Teil für Teil zu neuen Menschen auch wenn es so langsam geht, dass es in dem Moment nicht sichtbar ist. Der Gras wächst und die Bäume wachsen, und die Blätter entfalten sich, schaffen zusammen einen schattigen Dach über unseren Köpfen und fallen dann in einigen Monaten wieder in Massen ab und wird zu Erde. Wir bewegen uns, leben, wachsen, sterben, trauern, freuen uns, und machen immer wieder neue Entscheidungen. Es gibt so viel, das wir nicht kontrollieren können. Unsere Entscheidungen sind nur einen winzigen Teil von der größeren Welt- und Lebens-Bewegung in und um uns herum ist. Das heißt aber nicht, dass unsere Entscheidungen unwichtig sind, sondern eigentlich eher das Gegenteil – mit jeder von unseren Entscheidungen können wir viel mehr in Bewegung setzen als wir uns vorstellen können. Wie die Vorstellung, dass eine Schmetterling, durch ihre Bewegungen mit den Flügeln, Vibrationen schaffen kann, die mit bestimmten Voraussetzungen einen Erdbeben in einer anderen Teil der Welt kreieren können. Auch wir können durch jede Entscheidung etwas in rollen bringen, das Auswirkung auf das ganze Leben hat. Aber gleichzeitig ist es niemals nur die eine Entscheidung, sondern alle viele kleine Bewegungen, die wir und andere und die Welt gleichzeitig machen. Und jeden Moment können wir neu entscheiden, wie wir mit dem was kommt umgehen möchten. Jedes vergangenen Moment ist unwiederbringlich vorbei, und jedes jetzigen Moment ist neu und voll mit neuen Möglichkeiten – einen Schritt hierhin, einen Flügelschlag in der anderen Richtung, wir schließen einen Tür und öffnen einen anderen…
„Wie die Vorstellung, dass eine Schmetterling, durch ihre Bewegungen mit den Flügeln, Vibrationen schaffen kann, (…)“
Liebe Hanna, du hast mich sehr berührt mit deinem Text. Mein letzter Text hat so eine Schwere gehabt, dass ich fast gezögert habe ihn zu veröffentlichen, aber weil es ein Flowwrite ist, dachte ich, dass gehört dazu und ich zeige es so, wie es eben gerade ist. Dein Text hat dieses schwere Thema in so etwas Leichtes gewandelt. Das es mir das Herz erleichtert hat. Eine Art der Zuversicht in dem Schmerz, den Veränderung mit sich bringt. Wie bei einer Geburt, wo Schmerz, Neugier, Mut, Angst, Freude und so vieles mehr so nah beieinander liegen. Die Vorstellung, das der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Auswirkung haben kann, fand ich schön, weil es so eine Leichtigkeit hat. Veränderungen müssen nicht mit Anstrengung verbunden sein, manchmal kommen sie ganz leicht. Und ich muss an einen Brief denken, in dem mein Vater mir etwas wie „Mit einem Wimpernschlag bringst du mein ganzes Herz zum Schwingen“ geschrieben hat. Und ich glaube an diese besonderen Momente. Wir können sie nicht erzwingen, aber sie kommen immer wieder vorbeigeflogen.
„Wie bei einer Geburt, wo Schmerz, Neugier, Mut, Angst, Freude und so vieles mehr so nah beieinander liegen.“
Und mir berührt so viel von dem, was du hier oben jetzt schreibst. Ich könnte fast jeden Satz auswählen, aber wähle jetzt diesen hier, weil es gerade sehr schön etwas formuliert, das ich gerade versucht habe, für mich greifbar zu machen. Ich habe vor ein paar Tage in einem Buch über achtsame Kommunikation mit Kindern gelesen, dass jedes Gefühl oder Emotion, die wir erleben, durchschnittlich nur 10 Sekunden bei uns bleibt. Gefühle sind in ihrer „Ursprungsform“ wahnsinnig schnell. Sie steigen in uns plötzlich hoch, ziehen wie einen Flutwelle durch unseren gesamten System und sind dann wieder weg, oder ersetzt durch ein anderes Gefühl, eine andere Stimmung… Oder vielleicht überhaupt, dass die Gefühle niemals so weit weg von einander sind – nicht so abgegrenzt. Vorfreude vermischt sich mit Angst, Liebe vermischt sich mit Schmerz. Oft kommen sie nur in Kombination – wie ein Gefühlscoctail. Und trotzdem können wir uns oft schon entschieden auf welchen Gefühl wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Ich weiß, dass ich manchmal mich überwältigt fühlen kann, bei dem Gedanken, es könnte mein Kind etwas passieren. Eine Flutwelle von Angst und Schmerz, die durch mich rast und mir dem Hals und Herz zusammenschnürt. Und gleichzeitig so klar dadurch wie viel Liebe da ist – so viel Liebe, dass es schmerzt. Ich kann mir auch an die ersten Tagen mit ihm erinnern, direkt nach dem Geburt. Diesen kleinen Körper in den Armen zu haben, die so abhängig von mir war und gleichzeitig so ganz sein eigenes – Wünschen, Bedürfnisse und Willenskraft, das ich alles noch lernen musste zu interpretieren. „Mit einem Wimpernschlag bringst du mein ganzes Herz zum Schwingen“ hat dein Vater dir gesagt. So habe ich auch gefühlt und fühle weiterhin, wenn ich meinem Kind beobachte, wie er sich nach etwas streckt, wie er konzentriert die Hand im Fingerfarben steckt und dann genussvoll einen Farbchaos auf das Papier komponiert…